Erste Detail-Auswertung von Gebäudematerial-Pässen

Erste Detail-Auswertung von Gebäudematerial-Pässen

Recycling Cradle
Drees & Sommer wirbt dafür, dass bis 2030 mindestens 40% aller Materialien für Bauvorhaben aus nachwachsenden Rohstoffen oder Sekundärmaterialien kommen. / © airborne77 Fotolia

Bis 2050 wird laut Prognosen der Weltbank rund vier Milliarden Tonnen Müll entstehen – knapp 60% mehr als heute. Der Löwenanteil geht auf das Konto der Industrieländer. Dort verursacht keine Branche mehr Abfall als die Bauwirtschaft. 

Bei Umbau- oder Abrissarbeiten landen Materialien wie Beton, Gips oder Kies meist auf der Deponie, obwohl sie für neue Bauvorhaben dringend benötigt und teuer bezahlt werden. Die Umstellung auf eine Kreislaufwirtschaft soll dem einen Riegel vorschieben. Das Problem dabei: "Aktuell sind nicht einmal 10% der Neu- und Bestandsbauten für den Rückbau konzipiert. Damit es mit der nahtlosen Weiterverwertung klappt, brauchen wir zuerst einmal Transparenz, was in unseren Häusern überhaupt drinsteckt und was wir besser machen können, um CO2-Emissionen und Primärmaterial einzusparen. Deshalb brauchen wir flächendeckend Materialpässe für Gebäude", sagt Dr. Peter Mösle. 

Als Geschäftsführer des Umweltberatungsinstituts EPEA, einer Tochter des Bau- und Immobilienberaters Drees & Sommer SE aus Hamburg, konzipiert Mösle mit seinem Team solche Materialausweise für alle Arten von Gebäudetypen. Rund 50 davon hat EPEA nun in einer bislang einzigarten Auswertung analysiert und daraus wichtige Erkenntnisse für deren bundesweite Ausgestaltung abgeleitet. Bereits seit acht Jahren erstellt EPEA unter dem Namen "Circularity Passport Buildings" Materialausweise für Gebäude. 

Wer als Bauherr bereits heute einen solchen digitalen Gebäudematerial-Ausweis erstellt, wie ihn auch Bundesbauministerin Klara Geywitz noch für diese Legislaturperiode fordert, greift der Zukunft vor. Denn die in Europa und Deutschland geplante Regulierung wird die Branche früher oder später zu Materialkreisläufen zwingen – und ein Gebäude bei Abriss als Rohstofflager für neue Bauten zu nutzen. 

Peter Mösle

Ein digitaler Materialausweis wird die Bauwirtschaft so grundlegend verändern wie damals der Energieausweis, so Peter Mösle.Drees & Sommer

Peter Mösle


Was ist ein Materialausweis?

"Die Einführung eines digitalen Materialausweises wird die Bauwirtschaft so grundlegend verändern wie die Einführung des Energieausweises vor 20 Jahren, da erstmals Ressourcen-Schonung und Kreislauffähigkeit als verpflichtendes Kriterium in die Materialwahl einfliesst. Dafür müssen wir die bislang am Markt unterschiedlichen Modelle harmonisieren. Mit dem Materialkataster Madaster besteht bereits heute eine enge Kooperation. Wir brauchen aber unbedingt einen gesetzlichen Rahmen für einen einheitlichen Standard", fordert Peter Mösle. 

Zu den Kategorien, die ein Materialausweis für eine Immobilie unbedingt enthalten sollte, zählen für Pascal Keppler, Leiter Digital Services bei EPEA, folgende Kategorien: CO2-Fussabdruck / Ökobilanz, Materialtypen & -mengen, Anteil Material aus erneuerbaren oder recycelten Quellen, Schadstoffgehalt, Recyclingfähigkeit, Trennbarkeit der Materialien sowie die Demontierbarkeit der Bauteile. 

Keppler hat als Kreislauf-Spezialist die Ressourcen-Pässe für EPEA massgeblich mitentwickelt. Ein zentrales Ergebnis der Auswertung: Massive Bauteile wie Stahlbeton wirken sich am meisten auf das Gesamtergebnis im Ressourcenpass aus. "Wer bei seinem Bauvorhaben auf eine RC-Gesteinskörnung, einen recyclingfähigen Verbau, CO2-armen Zement, Bewehrungsstahl oder auf nachwachsende CO2-Speichermaterialien wie Holz setzt, erzielt im Materialpass ein sehr gutes Ergebnis. Gleichzeitig sind alternative Tragkonstruktionen kein Garant für gute Werte im Materialausweis. Um sie zu erreichen, müssen zudem Produkte von Herstellern mit hoher Material-Gesundheit und Kreislauffähigkeit ausgewählt werden. Eine reine materialtypen-basierte Optimierung genügt hier nicht", fasst Keppler zentrale Erkenntnisse aus der Auswertung zusammen. 

Die Geburtsstunde von Cradle-to-Cradle 

Angefangen hat alles im Jahr 2015 mit einem EU-Forschungsprojekt. Das Projekt namens BAMB – Buildings As Material Banks – sollte einen Paradigmenwechsel für die Bauwirtschaft einläuten. Erstmals stand der Kreislauf-Gedanke für Bauprodukte und Gebäude im Fokus: "Der sogenannte Materialkreislauf unserer Industriegesellschaft ist in Wahrheit eine Einbahnstrasse" so Pascal Keppler. 

"Rohstoffe werden abgebaut, verarbeitet, benutzt und schliesslich entsorgt. In der Abfallwirtschaft spricht man deshalb von Downcycling und vom Cradle to Grave-Prinzip. Dagegen steht der Cradle to Cradle-Ansatz, nach dem wir Produkte aus erneuerbaren Quellen so konzipieren, dass sie ohne Qualitätsverlust in potenziell unendlichen Kreislaufen zirkulieren können." Mit konventionellen Bauprodukten ist das oft schwierig. Beispielsweise sind in herkömmlichen Wärmedämm-Verbundsystemen bis zu 20 verschiedene Stoffe auf untrennbare Weise miteinander verbunden, die nichts als Sondermüll hinterlassen. Hier gehen Rohstoffe von der Wiege ins Grab. 

Demgegenüber stehen kreislauffähig zertifizierte Baustoffe, die nicht nur Ressourcen schonen, sondern auch den Materialwert erhalten. "Mit 20 bis 30% steckt ein erheblicher Teil der Bruttobaukosten in den Materialien. Lassen sich die eingesetzten Stoffe am Ende der Nutzungszeit wieder zurückgewinnen und bilden dann die Grundlage neuer, hochwertiger Produkte, bleibt ein nennenswerter Teil dieses Wertes erhalten", sagt Peter Mösle. Genau dafür brauche es aber Materialausweise - und die finanzielle Wertermittlung durch die Madaster-Plattform. 

Ressourcen-Gräber werden Rohstoff-Depots 

Seit dem EU-Forschungsprojekt hat EPEA über 100 Ressourcen-Pässe erstellt und dabei stetig weiterentwickelt. "Hohe Punktzahlen gibt es, wenn Materialien entweder aus erneuerbaren Quellen wie nachwachsenden Rohstoffen stammen oder wenn sie als Sekundär-Rohstoff schon einmal im Bau eingesetzt wurden und nun ein nächstes Leben bekommen", erläutert Peter Mösle. 

Als Recycling möchte er diese Art der Wiederverwertung ganz bewusst nicht bezeichnen. "Die derzeitige Gesetzgebung betrachtet Downcycling oder die sogenannte energetische Verwertung – wie das Verbrennen von Holz – als Recycling. Für Klima- und Ressourcen-Schonung ist das aber Gift. Daher bewerten wir im Ressourcenpass Materialien nach ihrem Verwertungspotential. In die Beurteilung fliesst ein, ob wir die Materialien bei Umbau oder Abriss sortenrein trennen, rückbauen und wiederverwerten können. Wir sprechen hierbei von Industrial Re-Use." 

Gebäude wandeln sich damit zu wertvollen Rohstoff-Depots, die ihre Materialien am Ende der Nutzungszeit wieder für neue Vorhaben freigeben. Auch der CO2-Fussabdruck wird in den Ressourcenpässen ausgewertet. Nur wenigen Menschen ist bewusst, dass Heizung, Warmwasser-Versorgung und Strombedarf für Lüftung und Beleuchtung lediglich die Hälfte der gesamten CO2-Emissionen in den meisten der heutigen Neubauten verursachen. Die andere Hälfte fällt beim Herstellen und Transportieren von Baumaterialien an, inklusive Rückbau und Entsorgung. Der Ressourcenpass bezieht auch diese sogenannte graue Energie mit ein, um Gebäude über ihren gesamten Lebenszyklus zu bilanzieren. 

Keppler Pascal

Hat als Kreislauf-Spezialist die Ressourcen-Pässe für EPEA mitentwickelt: Pascal Keppler.Drees Sommer

Keppler Pascal

Ressourcenpass hilft planen

Hilfreich sind diese Informationen nicht nur für die Dokumentation, sondern auch für eine umweltschonende Planung. Vor allem in der Kategorie "Materialherkunft" zeigt der Ressourcenpass sein Optimierungspotenzial. In der Regel werden bei Neubauten lediglich einige Metalle – wie beispielsweise der Bewehrungsstahl – aus Sekundär-Materialien hergestellt. Das entspricht nicht einmal 10%. Wird dagegen mit dem Ressourcenpass über den gesamten Lebenszyklus geplant, sind schon heute Werte über 40% gut möglich. 

"Durch die messbaren Kennwerte haben Planungsteams die Möglichkeit, ihre Gebäude nach Aspekten der Kreislaufwirtschaft zu optimieren", sagt Pascal Keppler, der u.a. den Drees & Sommer-Neubau OWP12 in Stuttgart auf diese Weise mitgeplant hat. Nahezu jeder Balken, jede Tür und auch kleinteilige Materialien wie Klebstoffe sind in die Bilanzierung des Plusenergiehauses am Drees & Sommer-Campus eingeflossen. 

Um eine solche Menge an Informationen beherrschbar zu machen, werden die Daten mit einem digitalen Zwilling verknüpft. Eindeutige Ampel-Farbskalen visualisieren die Bauprodukte und helfen dabei, sie vor Einbau zu bewerten. Ist z.B. die einfache Trennbarkeit von Materialien noch nicht oder nicht ganz gewährleistet, erscheint das zugehörige Bauteil in Rot oder Gelb. Kreislauffähige Bauteile erscheinen in Grün. 

C2C optimiert 

Das Drees & Sommer-Gebäude konnte auf diese Weise gemäss des Cradle to Cradle-Designprinzips optimiert werden und erhielt dafür im September 2023 die Zertifizierung in Platin der Deutschen Gesellschaft für Nachhaltiges Bauen. Die Bundesregierung plant noch in dieser Legislaturperiode die Einführung des Gebäuderessourcenpasses. Spätestens dann wird das Cradle to Cradle-Prinzip an vielen Stellen Voraussetzung für Förderungen, Finanzierungen oder Zertifizierungen werden. 

Geht es nach Peter Mösle, braucht eine solche Gesetzgebung vor allem eines: klare Zielquoten nach Vorbild des Energieausweises. "Vor dem Hintergrund der Regulatorik steigt heute schon die Nachfrage nach zirkulärem Design. Um die Rohstoff-Wende weiter anzukurbeln, sollten bis zum Jahr 2030 mindestens 40% aller Materialien für Bauvorhaben aus nachwachsenden Rohstoffen oder Sekundärmaterialien kommen – egal ob bei Neubau oder Sanierung." Im Bestand lasse sich diese Quote in der Regel bereits durch den Erhalt des Fundaments und der Tragwerke erreichen. Für neu konzipierte Baustoffe fordert Mösle eine Kreislauf-Quote ohne Kompromisse: Alles Neue muss auch später wieder in hochwertige Kreisläufe gehen können. 

"Hier sind vor allem die Hersteller gefragt, ihre Geschäftsmodelle anzupassen, indem sie ihre Produkte nach Ökodesign-Kriterien entwickeln und industrielles Re-Use betreiben. Damit holen wir regionale Wertschöpfung nach Deutschland und Europa zurück und verringern gleichzeitig die Abhängigkeit von importierten Rohstoffen", sagt Mösle. "Unsere ökologischen Probleme verschwinden nicht einfach mit einem Weiter-so. Wenn wir uns die Zukunft nicht verbauen wollen, müssen wir jetzt handeln und eine konsequente Kreislaufwirtschaft nach dem Cradle to Cradle-Prinzip angehen." 

Seit 2021 bilanziert EPEA alle Ökobilanzen und Circularity Passports über eine interne Datenbank. Aufgrund der Vielfalt und Heterogenität der erfassten Projekte wurden Merkmale für die Qualitätssicherung der Stichprobe erfasst. Dazu wurden in den Projekten Informationen zum Planungsstand und Detailgrad, Bilanzierungsumfang der Modellierung und für die Art von Beratungsleistung erhoben. In die Stichprobe sind 48 Gebäude eingeflossen, davon 23 Bürogebäude und 14 Wohngebäude. / kn 

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