Warum sind Themen wie CO2-Bilanzierung, Lebenszyklus-Betrachtung eines Gebäudes oder zirkuläres Wirtschaften im Bauprozess und bei Baustoffen heute so wichtig? Damit beschäftigt sich Dr. Jörg Schlenger als Teamleiter Energy & Sustainability bei Drees & Sommer. Er ist seit über 20 Jahren Experte in Sachen Energie und Nachhaltigkeit. Ursprünglich Bauingenieur lag sein Interessen-Schwerpunkt seit jeher auf Themen Gebäude- und Anlagensimulation, Betriebsoptimierung und Nutzerkomfort – "so bin ich bin quasi von der ersten Stunde an auch in die Nachhaltigkeitsthemen reingewachsen".
Mit diesen Worten stellt sich der Experte zu Beginn des HITT Post-Events am 19. Februar 2024 im Frankfurter Bürohaus von Drees & Sommer vor, um den spannenden Dreiklang von "Nachhaltigkeit, EU-Taxonomie und Cradle to Cradle" zu erläutern.
"Wir befinden uns an der Wende vom fossilen Zeitalter der Industrialisierung hin zu einem regenerativen Zeitalter", bringt es der Nachhaltigkeits-Experte auf den Punkt. Die Bau- und Immobilienbranche sehe sich bei diesem Wandel aus gutem Grund in der Verantwortung. "Man muss sich immer mal verdeutlichen, welchen Hebel wir mit unserem täglichen Handeln haben. 40 bis 50 Prozent unserer Rohstoffe werden für die Baubranche benötigt."
Bauwirtschaft generiert 60% der Abfälle
Weitere bekannte, aber dennoch alarmierende Zahlen: 15 Milliarden Tonnen an Rohstoffen sind deutschlandweit in Gebäuden gebunden; 30 bis 40 Prozent aller CO2-Emissionen werden durch die Bau- und Immobilienwirtschaft verursacht. "Das Schlimmste ist jedoch, dass 60 Prozent aller Abfälle aus der Bauwirtschaft kommen, darum haben wir eine grosse Verantwortung, diese Themen zu bearbeiten", mahnt der Drees & Sommer-Experte. Die CO2-Bilanz eines Gebäudes stellt er für die Zuhörer grafisch dar und erläutert: "Wenn Sie den Lebenszyklus eines Gebäudes betrachten, dann sehen Sie auf der Zeitachse einen Lebenszeitraum von vielleicht 50 bis 60 Jahren, die ein Gebäude im Idealfall genutzt werden sollte."
Neben der grauen Energie, die in den Baustoffen steckt, und den CO2-Emissionen, die bei der Herstellung eines Gebäudes entstehen, werden auch im laufenden Betrieb Emissionen verursacht. Schlenger: "Idealerweise wird das in den ersten Jahren immer besser, denn das Gebäude wird eingeregelt und gesteuert, aber auch das ist leider nicht immer der Fall." Nach ein paar Jahren kommen erste Renovierungen des Innenraums, die erfordern wieder graue Energie, es folgen weitere Renovierungen und Sanierungen im Lauf der Zeit, so dass unabhängig von der Konstruktion 35 Prozent – oder mehr – CO2-Emissionen während der Lebenszeit der Immobilie anfallen.
Und was passiert am "End-of-Life"-Punkt des Zyklus? Momentan sieht es so aus: "Wenn wir ein Gebäude abreissen, wird der Beton geschreddert, vielleicht wird noch mit einem Magneten das Metall rausgezogen, aber ansonsten landet das als Unterbau im Strassenbau und ist damit ein quasi wertloses Produkt."
Den Wert der Baustoffe erkennen
Bei Verbundwerkstoffen sind die Materialien so miteinander verschmolzen, dass sie häufig gar nicht zu trennen und zurückzugewinnen sind. Andere wiederum sind mit Schadstoffen belastet und daher nicht wiederverwendbar. "Welche Baustoffe wir einsetzen und wie wir sie einsetzen, bestimmt massiv, ob wir sie später wieder zurückgewinnen können", gibt Schlenger zu bedenken.
Auch wirtschaftliche Aspekte sind zu beachten. "Baustoffe haben einen Wert und diesen Wert müssen wir am Ende des Lebenszyklus wieder zurückholen." Immer mehr Hersteller entwickelten nach Erfahrung von Schlenger selbst Interesse daran, ihre Rohstoffe wieder in den Kreislauf zu bringen – darunter das Unternehmen Schüco, der C2C-zertifizierte Systeme anbietet und sich im Bereich Aluminium- und Kunststoff-Recycling engagiert.
Damit Materialien ein zweites Leben haben können, müssen sie schadstofffrei und trennbar konstruiert sein. Als negatives Beispiel nennt Schlenger klassische Wärmedämmverbundsysteme, die aus vielen Schichten bestünden und sich bei Abriss eines Gebäudes nur noch mit dem Bagger runterkratzen und thermisch verwerten liessen. Er prognostiziert: "Baustoffe sind ein Riesenthema, die in den letzten 20 Jahren stark in den Fokus gerückt sind und künftig noch mehr in den Fokus rücken werden."
Ganz oben in der EU-Taxonomie steht die Vermeidung des Klimawandels, gefolgt von der Anpassung an den Klimawandel, denn wie Schlenger es formuliert: "Selbst wenn wir alle Emissionen von heute auf morgen einstellen würden, hätten wir in den nächsten zehn Jahren immer noch steigende Klima-Auswirkungen."
Albtraum Stranded Assets
Um das Risiko eines Stranded Asset zu minimieren, müssten CO2-Emissionen, Schadstoffe sowie Umweltverschmutzung reduziert werden und im Gegenzug die Nutzung erneuerbarer Energien, nachwachsender Rohstoffe und Sekundärmaterialien sowie die Förderung der Biodiversität erhöht werden.
Dafür stehen der Immobilienwirtschaft bereits eine Reihe grüner Instrumente zur Verfügung, mit denen dokumentiert wird, was im Gebäude und wie es verbaut ist und in welchen Mengen. Denn auch die aus den neuen Rahmenbedingungen entstehenden Verpflichtungen und Anforderung verschärfen sich von Jahr zu Jahr.
Wer seit 2022 von den neuen ESG-Instrumenten betroffen ist, zeigt Dr. Schlenger in einem Schaubild auf. Demnach geht die Verringerung der Umweltrisiken aus dem European Green Deal alle an. Die EU-Taxonomie betrifft Branchen und Unternehmen ab einer gewissen Grösse, inklusive der Immobilienwirtschaft. "Da sitzen auch Projektentwickler, Bauherren und Eigentümer mit im Boot, wenn mit den technischen Regeln die Qualität eines Gebäudes bewertet wird", sagt er und spielt auf die die sogenannten Technical Screening Criteria (E-TR TSC) der Taxonomie an.
"Und wir haben verschiedene europäische Labels und Benchmarks, nach denen die Gebäude bewertet werden". Gemeint sind: Cradle to Cradle, Circularity Passport, LCA (Lifecycle Assessment), EPD (Environmental Product Declaration) und weitere EU-Labels (siehe Infobox).
Ganz wichtig sei der Asset Bereich. "Hier reden wir über Finanzprodukte. Der wesentliche Punkt der EU-Taxonomie ist, dass sie nicht auf der technischen Ebene bleibt, sondern dass sie den Finanzmarkt, der viele Massnahmen bei uns treibt, mit in die Pflicht nimmt und sagt, wir müssen diese Qualitäten in den Finanzprodukten transparent darlegen." Dementsprechend werden Anstrengungen unternommen, um grüne Portfolien zu erstellen. "Der Druck auf den Markt, der hier in den letzten drei Jahren entstanden ist, ist enorm", kommentiert Schlenger.
Auch die Vorgaben für transparentes Reporting auf Unternehmensebene, zum kleinen Teil auch auf Asset-Ebene, werfen ihre Schatten voraus: "Daraus ergeben sich eine Reihe von Regularien, die in den nächsten Monaten und Jahren auf uns zukommen werden. Wir sind kurz davor, eine Ökodesign-Richtlinie für Produkte zu bekommen. Im Laufe dieses Jahres soll die überarbeitete Bauprodukte-Verordnung folgen (siehe Infobox), die entsprechende Qualitäten für am Markt gehandelte und angebotene Produkte definiert, die dann wiederum für Taxonomie-konforme Projekte eingesetzt werden", erklärt der Experte.
Sanieren oder abreissen? Vergleichen!
Unsicherheit herrscht derzeit noch beim Thema Bestand. Auch wenn der Schluss naheliegt, dass es besser ist, eine Immobilie zu sanieren als sie abzureissen und neu zu bauen, ist die Regulatorik vorwiegend auf den Neubau ausgerichtet. Schlenger: "Fakt ist: Wenn ich ein Bestandsgebäude habe und der Beton ist bereits verbaut, dann sind die Emissionen schon entstanden und in die Atmosphäre entwichen. Die Frage ist, was machen ich beispielsweise, wenn eine Renovierung ansteht – baue ich neu oder reisse ich ab? Durch die Lebenszyklus-Analyse können Vor- und Nachteile gegenübergestellt und bewertet werden.
Wer neu baut, hat hohe Aufwendungen an CO2-Emissionen in Form von grauer Energie am Anfang und muss sich fragen: "Bin ich in der Lage, vieles von dem Projekt nach dem Rückbau weiterzuverwenden?" Stichwort: Urban Mining. Entsprechende Beispiele habe man bei Drees & Sommer auch – etwa eine Plattenbausanierung, bei der zwei Geschosse abgebrochen wurden und ein Teil des Abbruchmaterials beim gleichen Projekt erneut Verwendung fand.
Eine Rolle spielt bei einer solchen Entscheidung, welche Baustoffe in den bestehenden Gebäuden stecken, denn das können auch aufwendig zu entsorgende Asbestbauteile sein. Da seien Vermittler mittlerweile sehr sensibel, weil damit nicht unerhebliche Kosten verbunden sind. Schlenger: "Natürlich stecken auch Wertstoffe in dem Gebäude, die verbaut sind und die ich zurückgewinnen kann, wie Kupfer oder andere Metalle. So habe ich beim Abbruch nicht nur Kosten, sondern auch eine Haben-Seite, falls bestimmte Baustoffe trennbar im Gebäude verfügbar sind."
In Dänemark ist die CO2-Bilanzierung über den Lebenszyklus (LCA) für alle Gebäude ab einer bestimmten Grösse gesetzlich verpflichtend, in Frankreich für Bürogebäude, in Deutschland ist es seit 2023 Jahr an die QNG-Förderung gekoppelt. "Wer eine Nachhaltigkeitsförderung in Anspruch nehmen möchte, muss die ganzheitliche Betrachtungsmethode anwenden und nachweisen", betont Schlenger.
Einheitlich klassifizierte Produkte
Entsprechend stark verändert sich derzeit der Baustoffmarkt. Grundsätzlich gibt es immer mehr Produkte, was man auch an den weltweit verifizierten Umweltprodukt-Deklarationen (Environmental Product Declaration/EPD) sehen kann. Anfang Januar 2023 waren es über 16.000 EPD nach EN 15804 für Bauprodukte. Zusammen mit den fast 90.000 EPD nach ISO 21930 und den über 25.000 EN 15804 EPD aus verifizierten EPD-Tools bedeutet dies, dass der weltweite Anstieg bei fast 130.000 EPD für Bauprodukte liegt (Quelle: eco-platform.org). "Wenn Produkte nach standardisierten Bewertungsverfahren klassifiziert und deklariert sind, hat man als Planer die Möglichkeit, gezielt solche mit nachgewiesen geringer Umweltauswirkung auszuwählen."
Um das darzustellen, soll es einen digitalen Gebäuderessourcenpass (eLCA) geben, der gerade im Auftrag des Bundeinstituts für Bau-, Stadt- und Raumforschung (BBSR) entwickelt wird und in Deutschland voraussichtlich im 1. Halbjahr 2025 in die BEG-Förderung kommt. Schlenger: "Sie sehen: Die Themen sind adressiert, an ihnen werde auch auf politischer Ebene derzeit intensiv gearbeitet." Das geschah u.a. beim Spitzentreffen im Rahmen des Formats "Allianz für Transformation", das am 23. Januar 2024 unter dem Thema "Zirkuläres Wirtschaften bei Bau, Baustoffen und Gebäuden" stand.
"Wir müssen zu einer Kreislauffähigkeit der Produkte kommen – sprich dass sie im Gebäude wiederverwendet werden oder wenn das nicht möglich ist, zu neuen Produkten werden", zieht Schlenger sein Resümee und führt als für die Zuhörer greifbares Beispiel den Veranstaltungsort an. In der Dependance in Frankfurt hat Drees & Sommer im Mieterausbau beispielsweise C2C-zertifizierte System-Trennwände, Deckensegel und Bodenbeläge eingesetzt sowie einen Grossteil des vorhandenen Mobiliars aus dem vorherigen Standort für das neue Bürolayout wiederverwendet. Auch die Fassade des Gebäudes ist durch seine Aluminiumprofile zum Teil recyclingfähig und kann nach dem Rückbau in ferner Zukunft wieder zu neuem Material werden.
Apropos ferne Zukunft – im Immobiliensektor ist künftig Weitsicht gefragt, wie Schlenger konstatiert: "In den letzten 20 bis 30 Jahren gab es viele Renditeobjekte, in die wenig investiert wurde. Im Bestand funktioniert das. Aber jetzt reicht es nicht mehr, einen Plan für die nächsten drei Jahre zu haben. Ich muss heute eine ganzheitliche Strategie haben und wissen, wo ich in zehn Jahren mit dem Gebäude stehen will, damit ich es besser am Markt platzieren kann. Das ist im Moment die grosse Challenge." / Kirsten Posautz