Erster Overtourism-Index will Lösungen liefern

Erster Overtourism-Index will Lösungen liefern

Tourists in Danzig, Poland
Viele europäische Grossstädte wie Kopenhagen, Amsterdam und Dublin sind durch den Tourismus stark belastet. / © Freestocks, Unsplash

Die Proteste gegen die Touristenflut und die damit einhergehenden Nöte der Einheimischen sind seit Monaten immer wieder in den Medien präsent. Nun hat eine Studie Fakten gesammelt, um das Problem messbar zu machen und Lösungen zu finden. 

Overtourism – definiert als das übermässige Wachstum der Besucherzahlen in einem bestimmten Gebiet – hat unbestreitbar tiefgreifende Auswirkungen: beschädigte Naturräume, eine schlechtere Lebensqualität für die lokale Bevölkerung, endlose Wartezeiten für die Besichtigung beliebter Sehenswürdigkeiten, eine verschlechterte Reiseerfahrung für Touristen. Gleichzeitig ist das Phänomen aber nur schwer messbar. 


Die Reiseplattform Evaneos und die Unternehmensberatung Roland Berger haben den ersten Übertourismus-Index erarbeitet. Dieser wurde auf der Grundlage externer Daten erstellt (basierend auf einer Auswahl von 70 der 100 wichtigsten Reiseziele weltweit) und soll den Akteuren der Tourismusbranche als Entscheidungshilfe dienen. 


Um den Grad der Gefährdung durch Übertourismus zu messen, wird jedes Reiseziel auf einer Skala von 1 (geringe Gefährdung) bis 5 (extreme Gefährdung) bewertet, indem vier objektive Kriterien miteinander verknüpft werden: 


  1. Internationale Reisende pro Einwohner
  2. Internationale Reisende pro Quadratkilometer
  3. Saisonale Konzentration
  4. Nachhaltigkeits-Reifegrad (dieses Bewertungskriterium berücksichtigt u.a. die sozialen Auswirkungen des Tourismus, den Zustand der Gastgeber-Infrastruktur oder auch die Entwicklung des Transportwesens)  


Das Phänomen ist vielseitig

Erste Erkenntnis: Übertourismus ist kein zu pauschalierendes Phänomen, weshalb eine Unterteilung in verschiedene Kategorien notwendig ist, um der Komplexität gerecht zu werden. Aus diesem Grund listet der Übertourismus-Index nicht nur die stark oder weniger stark gefährdeten Reiseziele auf, sondern definiert ergänzend eine neue Kategorisierung, die auf den verschiedenen Arten der Überbelastung basiert. Diese Unterteilung soll es ermöglichen, die für jede Situation am besten geeigneten Lösungen zu identifizieren.


"Jede Kategorie des Übertourismus wirft unterschiedliche Fragen auf, auf die passende Antworten gefunden werden müssen. Mit einem Touristenansturm in einer grossen europäischen Hauptstadt sollte man ganz anders umgehen als in einem sommerlichen Badeort. Anstatt mit dem Finger auf bestimmte, am stärksten betroffene Reiseziele zu zeigen, geht es bei diesem Index darum, über die am besten geeigneten Lösungen nachzudenken und sie umzusetzen", kommentiert Aurélie Sandler, Co-CEO von Evaneos.


Verschiedene Kategorien und erste Lösungsansätze 

Die Analyse der Reiseziele identifizierte drei durch Übertourismus verursachte Gefährdungstypen: 


  • Strand-Reiseziele
  • Beliebte europäische Reiseziele 
  • Städtische Reiseziele


Hinzu kommen sogenannte "Reiseziele unter Beobachtung", welche Destinationen beinhalten, die Präventiv-Massnahmen erfordern. Die fünfte Kategorie "Behütete Reiseziele" fasst jene Reiseziele zusammen, die bislang noch vom Massentourismus verschont geblieben sind. 


1. Strand-Reiseziele

Der Tourismus an Badeorten ist mit einem durchschnittlichen Index von 4 auf einer Skala von 5 die am stärksten gefährdete Kategorie. Der Grund dafür ist ein besonders hoher Anteil an Touristen (3,2 bis 9,9 Touristen pro 1 Einwohner) in relativ kleinen (1.600 bis 8.000 Touristen pro qkm) und ökologisch fragilen Gebieten. Zu den betroffenen Ländern gehören Zypern (4,4), Mauritius (4,2), Griechenland (4) und Kroatien (3,8). Diese Reiseziele sind umso anfälliger, da durchschnittlich 25 Prozent ihres Bruttoinlandsprodukts (BIP) vom Tourismus abhängen. 


Diese stark gefährdeten Destinationen, bei denen sich die überwiegende Mehrheit der Touristen am Meer aufhält, müssen dringend verbindliche Massnahmen einführen. Die erste Antwort besteht darin, die Kapazität dieser Reiseziele zu regulieren, z.B. durch die Einführung von Quoten, um die am stärksten frequentierten Orte zu erhalten. Ausserdem müssen die Touristenströme über das Jahr verteilt werden, indem diese Reiseziele intensiver für die Nebensaison beworben werden. Das Ziel ist nicht, die Anzahl der Touristen per se zu reduzieren, sondern eine bessere Verteilung der Besucherzahlen über das ganze Jahr zu ermöglichen, wodurch das BIP nicht gefährdet wird.



Mass tourism protest

Was hilft gegen den Massentourismus? Die Studie von Evaneos und Roland Berger versucht sich an Lösungen. Mark De Jong, Unsplash

Mass tourism protest

2. Beliebte europäische Reiseziele

Die beliebtesten europäischen Reiseziele sind zwar in der Lage, eine grosse Anzahl an Touristen zu empfangen; sie erleben jedoch einen besonders hohen Zustrom in der Sommersaison: Bis zu 43 Prozent der Anreisen konzentrieren sich auf das dritte Quartal. Bei einem durchschnittlichen Index von 3,5 sind Spanien (3,6), Italien (3,6) und Portugal (3,6), dicht gefolgt von Frankreich (3,3), die am stärksten gefährdeten Reiseziele in den Monaten Juni, Juli und August. 


Da diese Reiseziele wirtschaftlich weniger vom Tourismus abhängig sind (durchschnittlich 9 Prozent des BIP) als die Badeorte, bedarf es hier in erster Linie Massnahmen zur saisonalen Verteilung der Touristenströme auf das Frühjahr oder den Herbst. Dies erfordert eine Aufklärung der Reisenden und eine Mobilisierung der Tourismusindustrie, das Angebot zu erweitern, um so den saisonalen Druck gezielt auszugleichen. Wer Italien oder Frankreich im April oder September besucht, kann von milderen Temperaturen und einer entspannteren Reise mit weniger Touristenmassen profitieren. 


3. Städtische Reiseziele

Beim Städtetourismus, der vor allem die grossen europäischen Hauptstädte betrifft, müssen Massnahmen getroffen werden, um die Städte zu entlasten und die wirtschaftlichen Effekte des Tourismus' auf die Randgebiete zu übertragen. Obwohl diese Reiseziele ein gesundes Nachhaltigkeitslevel und eine geringe wirtschaftliche Abhängigkeit vom Tourismus (durchschnittlich 5 Prozent des BIP) aufweisen, konzentrieren sich im dritten Quartal bis zu 37 Prozent der Ankünfte auf diese Metropolen. Sie erreichten im Durchschnitt einen Index von 3,2. In den Top 3 der meistgefährdeten Metropolen: Dänemark (Kopenhagen) führt die Liste mit einer Bewertung von 3,8 an, gefolgt von den Niederlanden (Amsterdam) mit 3,7 und Irland (Dublin) mit 3,4.


Diese Destinationen haben ein grosses Interesse daran, die Touristenströme zugunsten anderer Regionen zu verteilen. In den Niederlanden beispielsweise wird Rotterdam stärker in den Vordergrund gerückt, um Amsterdam zu entlasten. Eine andere Möglichkeit besteht darin, Reisende dazu zu bewegen, länger zu verreisen, wodurch sie weitere und teils unbekanntere Regionen neben den am stärksten frequentierten Städten besuchen können. Zu diesem Zweck hat Evaneos seit Januar dieses Jahres den Verkauf von Städtereisen, die mit einer Anreise per Flugzeug verbunden sind und weniger als fünf Tage dauern, eingestellt. 


4. Reiseziele unter Beobachtung

Bei den "Reisezielen unter Beobachtung" besteht die Herausforderung darin, vorausschauend zu handeln und Präventions-Massnahmen zu ergreifen. Mit einem Index von 3 verfügen die Destinationen aus dieser Kategorie über eine ausgeglichene Konzentration an Touristen über das gesamte Jahr (zwischen 24 und 28 Prozent). Da sie jedoch bei Reisenden immer beliebter werden, erfordern sie eine vorausschauende Steuerung der Dichte, sowohl in Bezug auf die Grösse (zwischen 54 und 240 pro qkm) als auch die Einwohnerzahl (0,8 Touristen pro Einwohner). Mit einem Anteil am BIP von durchschnittlich 9 Prozent stehen diese Reiseziele an einem Wendepunkt. An der Spitze stehen Marokko (3,1), Vietnam (3), Ägypten (2,7) oder auch Island (2,9). Letzteres ist mit einer Dichte von 5,2 Touristen pro Einwohner besonders gefährdet. 


Die Hauptaufgabe der Tourismus-Verantwortlichen besteht darin, die Aufnahme-Kapazität und mögliche Massnahmen zur Erhaltung der Sehenswürdigkeiten im Auge zu behalten. Es geht darum, die Entwicklung der Infrastruktur in diesen Destinationen zu antizipieren und bestmöglich zu begleiten, um die Authentizität zu bewahren und gleichzeitig mit gezielten und begrenzten Angeboten Aufklärungsarbeit bei den Reisenden zu leisten. 


5. Behütete Reiseziele 

Hierbei handelt es sich um Reiseziele, die nicht nur über ein grosses Gebiet und damit über eine ausgewogene Verteilung der Touristenströme verfügen, bezogen auf die Fläche (16 bis 80 pro qkm) oder die Einwohner (0,3 pro 1 Einwohner). Mit einer Saisonabhängigkeit zwischen 24 und 28 Prozent über das ganze Jahr hinweg und einem durchschnittlichen Index von 2,5 sind diese Reiseziele heute vor Übertourismus geschützt. Zu den Ländern dieser Kategorie gehören beispielsweise Kanada (2,3), die USA (1,7), Australien (1,5) und Tansania (1,8).


Mit einer Bewertung von 4,2 ist Griechenland ein Reiseziel, das im Sommer besonders anfällig für Übertourismus ist. Zu dieser objektiven Feststellung kommt eine Situation hinzu, die besonders auf Mykonos und Santorini zu Tage tritt: Der massive Andrang von Touristen beeinträchtigt die Lebensqualität der einheimischen Bevölkerung und schürt dadurch deren Zorn. Die Folgen sind vielfältig: Preisinflation, überfüllte Strassen, Schwierigkeiten bei der Wasserversorgung, was wiederum auch die Erfahrungen der Reisenden verschlechtert. - Den kompletten Overtourism-Index haben wir als pdf angehängt. / red

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